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Leistung statt Bindung: Irrt Gallup?

Seit 15 Jahren dasselbe Spiel

Seit 15 Jahren dasselbe Spiel: Das Beratungsinstitut Gallup verkündet im Frühjahr das Ergebnis seiner Untersuchungen zum Engagement-Index. Seit 15 Jahren dasselbe Ergebnis, das mantraartig von Medien und Beratern wiederholt wird: 70% der Mitarbeiter deutscher Unternehmen sind emotional gering an ihre Firma gebunden, weitere 15% überhaupt nicht. Die Folge: Potenzielle – nicht tatsächliche – Fluktuationskosten von jährlich knapp 700 kEUR je 500 Mitarbeiter, potenzieller – nicht tatsächlicher – gesamtwirtschaftlicher Schaden von bis zu 100 Mrd. EUR im Jahr. Die Hauptursache: schlechte Chefs.

Die Praxis: Boomende Wirtschaft

Szenenwechsel: Die deutsche Wirtschaft brummt, und das seit Jahren. Der Arbeitsmarkt für Fachkräfte ist leer gefegt, die Arbeitslosenzahlen sind auf einem historisch niedrigen Stand. Viele Unternehmen erzielen Rekordergebnisse, Mitarbeiter leisten Überstunden und Zusatzschichten. Und das trotz geringer Bindung, folgt man Gallup.

Weiterer Szenenwechsel:Ich frage meine Kunden – industrielle Großunternehmen wie Mittelständler – regelmäßig nach der Stimmung und der Mitarbeiter-Fluktuation. Das Ergebnis: Selbst in Unternehmen oder Geschäftsbereichen, in denen die Stimmung schlecht ist, ist die Fluktuation eher im Normalbereich, bisweilen sogar ungesund niedrig. Und das trotz geringer Bindung, folgt man Gallup.

Höchstleistung ohne Höchstbindung

Was also hat unternehmerischer Erfolg mit Bindung zu tun? Leisten Mitarbeiter weniger, die geringer ans Unternehmen gebunden sind? Oder anders herum gefragt: Wie stark sind Leistungsträger an ihre Unternehmen gebunden? Nehmen Sie Profisportler wie Fußballer oder Basketballer als Beispiel. Die besten von ihnen sind oft gering an ihren Verein gebunden und doch erbringen sie Spitzenleistungen. Das sind unabhängige Charaktere, die wissen, dass sie in jeder Umgebung gut sind, und sie streben danach, schnell voran zukommen, ihr Talent bestmöglich zu nutzen, sich Alternativen offen zu halten. Offensichtlich kein Höchstmaß an Bindung, doch ein Höchstmaß an Identifikation mit dem Job.

Schauen Sie sich Partnerschaften an. Sind Beziehungen stabiler, in denen ein höheres Maß an Bindung empfunden wird? Oder solche, in denen die Partner ihre Eigenständigkeit bewahren und sich nicht primär über die Partnerschaft definieren? Ich traue dem zweiten Modell mehr Stabilität und Zukunftsfähigkeit zu. „Liebe dich selbst, und es ist egal, wen du heiratest“ ist zwar sehr plakativ, dennoch steckt im Kern mehr als ein nur ein Funken Wahrheit. Um ein hohes Maß an Bindung geht es dabei nicht, wohl aber um ein hohes Maß an Selbst-Akzeptanz und Eigenverantwortung.

Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung

Was folgt daraus? Der Kausalzusammenhang zwischen schlechter Führung, geringer Bindung und hohen Fluktuationskosten besteht meiner Beobachtung nach nicht. Statt mit der Fluktuationsangst zu spielen, empfehle ich eine differenzierte Betrachtung:

  • Bindung ist nicht Leistungsbereitschaft: Der unternehmerische Erfolg wird von der Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter bestimmt, die wiederum davon abhängt davon, ob Mitarbeiter sich in ihrer Tätigkeit entfalten können, diese also zu ihrer Persönlichkeit und ihren Fähigkeiten passt. Dann nämlich ist die Identifikation mit der Tätigkeit hoch, woraus bessere Ergebnisse und damit höhere Produktivität und Zufriedenheit folgen. Vielleicht auch ein höheres Maß an Bindung, doch das muss nicht sein.
  • Mitarbeiter haben Eigenverantwortung: Wer sich jeden Morgen zur Arbeit quält, am Montagmittag gedanklich schon beim nächsten Wochenende ist und häufig mit dem Gedanken spielt, sein Unternehmen zu verlassen, möge handeln. Es ist völlig in Ordnung – aus meiner Sicht sogar dringend notwendig -, sich nach einer Position umzusehen, die den eigenen Werten, Stärken und Erwartungen entspricht, wenn es deutliche Defizite im aktuellen Job gibt. Das tut beiden Seiten gut, den Mitarbeitern wie den Unternehmen. Und das heißt, Eigenverantwortung zu übernehmen, auf sich und die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu schauen statt auf die Umgebung und den Chef.

    Ich fürchte, das ist nicht en vogue, denn es ist unbequem. Jahrelang über schlechte Bedingungen zu jammern, doch nichts zu unternehmen, ist viel einfacher. Zudem wissen wir aus Hirnforschung und Psychologie, dass die Ursachen für die emotionale Konditionierung, die zur Jammerei führt, noch nicht mal in der aktuellen beruflichen Situation liegen müssen.

Und die Chefs?

Die Chefs tun gut daran, die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter zu kennen und zu nutzen sowie ihre Mitarbeiter darin zu unterstützen, sich selbst zu kennen und Eigenverantwortung zu übernehmen. Zudem wünschen sich viele Mitarbeiter, dass ihre Chefs klarere Anweisungen geben und Entscheidungen treffen. Ob das zu mehr Bindung führt, sei dahingestellt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit führt es jedoch zu besserer Produktivität.

Übrigens sage ich jetzt schon voraus, dass der Engagement-Index für 2017 genauso aussehen wird, wie die Ergebnisse der letzten 15 Jahre. Neue Erkenntnisse sind also nicht zu erwarten. Lohnt sich die Erhebung noch? Wahrscheinlich nicht. Außer, der vermutete Zusammenhang zur Fluktuation würde mit tatsächlichen Zahlen hinterlegt. Und auch dann gilt, dass potenzielle Kosten von 700 kEUR je 500 Mitarbeiter ein nahezu verschwindender Anteil an den Personalkosten sind.