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Offenheit: der heimliche Veränderungs-Turbo

Seit der Chef die „nun wirklich kommende große Transformation“ ausgerufen hatte, war er auf einem ganz neuen Trip. Bisher Freund einsamer Entscheidungen und des Erstickens sachlicher Einwände, propagierte er jüngst Offenheit als den neuen Kitt der Unternehmenskultur: „Leute, mir ist schon klar, dass ihr Sorgen wegen der Reorganisation habt. Aber ihr müsst offener werden, denn gemacht wird es ohnehin und zwar genauso, wie ich es geplant habe.“ Logisch, dass sich die Extrovertierteren unter denn Kick-off-Teilnehmern hinterher Luft machten: „Das ist mal wieder typisch. Kultur gilt nur fürs Fußvolk, der Chef gibt mal wieder den Nero. So kennen wir ihn.“

Ein Lippenbekenntnis …

Recht hatten sie. Denn natürlich war der Chef offen für andere Lösungen, hörte man auf seine Worte. Sah man dabei auf seine Körpersprache, war die Botschaft hingegen eine ganz andere. Am Ende bestimmte doch er allein, wie der Wandel zu laufen hatte, und zwar bis ins Detail des Details, wenn es sein musste. Sein vollmundiges Propagieren von Offenheit war vielmehr ein Akt der politischen Korrektheit als innere Überzeugung – ein klassisches Lippenbekenntnis.

Dieses Muster war allen im Unternehmen bekannt. Ob es sich um Projektziele drehte, um wichtige Produktfeatures, Meilensteine oder Ressourcenverteilung: Permanent überstimmte er seine Fachleute und hatte andauernd das letzte Wort. Klar, dass sich seine Experten kontinuierlich fragten, wozu sie da waren. Klar auch, dass sie ihm kein Wort mehr glaubten, wenn er über Offenheit schwadronierte. Wieder und wieder hatten sie erlebt, dass ihre Expertise am Ende nicht zählte – ja mehr noch, dass der Ausgang richtungsgebender Entscheidungen von vorne herein feststand.

… und nichts als Frust

Und wehe, jemand widersprach dem Chef, wenn er sich verkalkuliert hatte. Erst gab es ein cholerisches Donnerwetter, dann wurde die Sache auf Biegen und Brechen durchgepeitscht. Ging es schließlich schief, lag es nie an seinen Entscheidungen, sondern immer an der Unfähigkeit der anderen. Kein Wunder also, dass sich Frust breitmachte: Der Chef wollte sich als zentrale Entscheidungsinstanz positionieren, basierend auf Command and Control, Abnicken statt Widersprechen, Ausführen statt Mitdenken.

Ist eine solche Haltung schon generell riskant und unternehmerisch höchst kontraproduktiv, so wird sie lebensgefährlich, wenn es – wie bei einer groß angelegten Transformation – ums Ganze geht. Nichts ist schädlicher für den Unternehmenswandel als ignorierte und irritierte Mitarbeiter, die das Vorhaben nicht mittragen. Da kann der Chef sich noch so abstrampeln und im Alleingang alles regeln wollen, ohne Offenheit bleibt alles beim Alten.

Das ist Offenheit …

Offenheit ist das ernst und aufrichtig gemeinte Interesse, andere wirklich verstehen zu wollen, basierend darauf einen konstruktiven Diskurs zu führen und zu einem ausgewogenen Ergebnis zu kommen. Aktives Zuhören ist die Basis dafür, doch Offenheit ist viel mehr. Sie ist beseelt vom Wunsch, die Standpunkte und Überlegungen des Gegenübers nachzuvollziehen und sie am eigenen Weltbild zu spiegeln, um schließlich frei von Egomanie eine unternehmerisch möglichst sinnvolle Lösung in der Sache herbeizuführen.

Offenheit ist übrigens keineswegs gleichzusetzen mit Basisdemokratie. Die Haltung und Position anderer zu hören und in die Entscheidungsfindung zu integrieren, impliziert nicht, diesen auch zu folgen. Verwunderlich wäre es allerdings, wenn ein solcher Einfluss auf die Lösungsfindung fast nie auszumachen wäre. Dann sind die Positionen oder Einwände entweder kaum sachdienlich oder – das ist wahrscheinlicher – sie kommen erst gar nicht hoch, weil das nicht erwünscht ist. Der obige Chef lässt grüßen.

… und das bewirkt sie

Offenheit ist deshalb so nützlich, weil sie Menschen dazu bewegt, sich einzubringen und zur besten Lösung beizutragen. Erklären lässt sich diese Wirkung mit Erkenntnissen aus der Neurobiologie: Menschen brauchen sowohl Autonomie und Freiheit als auch Zugehörigkeit und Verbundenheit, um sich wohl zu fühlen und sich zu entfalten. Offenheit fördert beides, fehlende Offenheit vermeidet beides. Kein Wunder also, dass Menschen in Unternehmenskulturen, die von autoritärem Führungsstil und (Sprech-)Verboten geprägt sind, keine Zukunft sehen. Dass damit erhebliches unternehmerisches Potenzial verloren geht, ist offensichtlich.

Sorgen Sie in Ihrem Umfeld für eine Kultur der Offenheit, die nach Möglichkeit die gesamte Organisation durchdringt, und das ganz besonders in Zeiten der Veränderung. Das ist zwar mühsamer als unreflektiertes Entscheiden auf Schlagwortebene oder schnelles Überbügeln der eigenen Meinung, doch der Lohn sind sprunghaft höhere Motivation, Leistungsbereitschaft und Loyalität. Sie aktivieren damit einen veritablen heimlichen Veränderungs-Turbo. Wollten Sie darauf verzichten?