© Bild: Dr. Dieter Lederer

Wandel der Tönnies-Schlächter? Nicht unter dieser Führung

Wenige Tage vor Ferienbeginn der Corona-Gau im Münsterland und Ostwestfalen. Weil sich beim Tönnies-Schlachthof in Rheda-Wiedenbrück mehr als 1.500 Mitarbeiter mit dem Corona-Virus infiziert haben, rauschen zwei Landkreise in einen „Lockdown light“: 640.000 Menschen werden in „Sippenhaft“ genommen, müssen wieder auf Kinderbetreuung verzichten, werden aus Urlaubsgebieten ausgewiesen und erleben, dass sie in Nachbarkommunen angefeindet und ihre Autos zerkratzt oder sogar in Brand gesetzt werden. Die Wut ist groß: auf den machthungrigen und profitgierigen Firmenboss, der auf eine ethisch verantwortungsvolle Unternehmensführung pfeift.

Jahrelanges Wegsehen

Klar ist: Vorsorge steht in Pandemie-Zeiten an erster Stelle. Gleichwohl ist diese Kröte für die Menschen in der betroffenen Region schwer zu schlucken, denn die eklatanten Versäumnisse im Hause Tönnies sind seit Jahren in der Diskussion. Jetzt plötzlich wollen es alle schon immer gewusst haben, gehandelt jedoch hat keiner. Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ließen den Machtmenschen Clemens Tönnies gewähren, wenn er lieber mit dem Autokraten Putin kungelte als sich um menschen- und tierwürdige Bedingungen in seinem Unternehmenskonglomerat zu kümmern. Wo der gelernte Fleischtechniker als volksnaher und jovialer Vereinsboss des Kumpel- und Malocher-Clubs Schalke 04 Freitickets unters Volk brachte, blendeten die Höflinge den narzisstischen Regenten hinter der blau-weißen Fassade nur allzu gern aus. Im Fokus stand der Macher, nicht aber dessen Machenschaften.

Machtkampf statt solider Unternehmensführung

Das rächt sich jetzt bitter: Die Corona-Eskalation ist logische Konsequenz der arroganten und menschenverachtenden Unternehmenspolitik. Seit Jahren schwelt der Familienstreit mit dem gekränkten Neffen und Mitgesellschafter Robert. Der wies zwar immer wieder auf die umstrittenen Werksverträge hin, die dafür sorgten, dass die Arbeitnehmer „unangemessen niedrige Löhne […] und nicht mal ein Minimum an Arbeitsschutzrechten erhalten“, wie er per Anwaltsschreiben mitteilen ließ. Auch in Sachen Tierwohl machte er seinem Onkel massive Vorwürfe. Einen unternehmerisch nützlichen Effekt hat dieser Testosteron-geschwängerte Machtkampf keinen, dafür sorgt er für einen immensen Kollateralschaden: Am Ende siegt durchwegs die Profitgier – zulasten einer soliden und ethisch vertretbaren Unternehmensführung.

„Dumping-Schweinerei“ unter den Augen des Beirats

Als Tönnies 2010 endlich einen Betriebsrat gründete – laut Gewerkschaft NGG als letztes großes Unternehmen der Branche –, blieb die Hälfte der Mitarbeiter außen vor: Angestellte von Werkvertragspartnern, die laut Unternehmensangaben 50% der Belegschaft ausmachen, sind in ihren Rechten weder vertreten noch geschützt. Viele der Hilfsarbeiter, die vor allem aus Rumänien und Bulgarien kommen, klagten folglich auch weiterhin über desaströse Zustände in Betrieb und Unterkünften: Keine Rücksichtnahme auf Krankheitsfälle, fehlende Abstände am Fließband, überfüllte Wohnungen. Kein Wunder, dass Corona hier ein leichtes Spiel hatte.

War das vorhersehbar? Ja. Hat das den mit hochdekorierten Mandatsträgern besetzten Unternehmensbeirat interessiert, wenn schon nicht die Geschäftsführung? Nein. Schlimmer noch: Der Beirat hat sehenden Auges zugelassen, dass der schon vor Jahren gefasste Beschluss, keine Leiharbeiter mehr einzusetzen, ein reines Lippenbekenntnis blieb. Ein zynisches Komplettversagen – Wirecard lässt grüßen.

Floskeln statt Nachhaltigkeit

All das zeigt: Die in der Öffentlichkeit vollmundig zitierten Unternehmenswerte Zuverlässigkeit, Fairness, Respekt und Offenheit sind austauschbar beliebig und in der Praxis offenbar bedeutungslos. Sogar beim Thema Nachhaltigkeit steht auf der Unternehmens-Homepage der wirtschaftliche Erfolg an erster Stelle. Viele Floskeln, keine Glaubwürdigkeit, leere Worte statt sinnstiftender Taten. Selbst bei den Lieferketten endet die Verantwortung an der eigenen Haustür, schließlich sei man auf die Mitwirkung der Partner angewiesen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Dabei hätte der Fleischriese seine beherrschende Marktposition und wirtschaftliche Macht ohne Weiteres nutzen können, um die Branche zum Guten zu revolutionieren. Doch das gehört keinesfalls ins unternehmerische Weltbild des Alleinherrschers Clemens Tönnies. Der Corona-Ausbruch hat stattdessen mit voller Wucht gezeigt, dass es die Werte nicht mal bis zum eigenen Fließband schaffen.

Empathie Fehlanzeige

Selbst in der Krise spricht der Firmenchef noch von einem „tollen Konzern“ und versichert: „Wir haben […] geglaubt, alles richtig zu machen“. Er wolle das Unternehmen wieder aufbauen, das sei er der Region und den Menschen schuldig, er mache sich nicht aus dem Staub. Doch seine Beteuerungen hinterlassen nur einen schalen Nachgeschmack. Kongruenz und Aufrichtigkeit Fehlanzeige. Empathie Fehlanzeige, auch wenn sie gerade jetzt bitter nötig wäre.

Dazu würde gehören, sich mit den Ängsten und Sorgen der Menschen um sich herum intensiv auseinanderzusetzen und das in der Kommunikation und im Handeln spüren zu lassen. Dazu würde gehören, statt mit abstraktem Vokabular wie „Einsender, Abnehmer, Veredelung, landwirtschaftliche Produktion“ zu hantieren, einfach die Würde von Mensch und Tier zu achten und die Arbeitsumgebung entsprechend zu gestalten.

Corona bereinigt – hoffentlich

Clemens Tönnies‘ Integrität ist vermutlich unwiederbringlich zerstört. Ob unter diesen Vorzeichen ein tatsächlicher und ernstzunehmender Wandel bei den Schlächtern zu erwarten ist? Wohl kaum. Wo es die Unternehmenseigner nicht richten, müssen Gesellschaft, Politik und Verbraucher ran. Sie bekommen derzeit massive Schützenhilfe vom Corona-Virus, das in seinem rücksichtslosen Ausnutzen jeglicher Schwachstellen auch das Auffliegen und möglicherweise Aussortieren von Unternehmern und Management-Praktiken begünstigt, die nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind und auf ethisch verantwortungsvolle Führung pfeifen.

Für die Menschen in der Hotspot-Region, die jetzt ob der Profitgier eines Einzelnen in „Sippenhaft“ genommen werden, mag das ein schwacher Trost sein. Für den Standort Deutschland ist es ein richtungsweisendes Signal, denn respekt- und würdeloses Dumping rauben Vertrauen und Perspektiven. Dieser Prozess dauert weiter an und es ist sehr zu hoffen, dass am Ende die größten Sauställe ausgemistet sind.